Der Fall - eine Zusammenfassung

Mit der Einführung des Art. 59 im schweizerischen Strafgesetzbuch im Jahr 2007 wurde die zunehmende Delegation der Verantwortung von der Justiz an die Psychiatrie gesetzlich verankert. Seither sind Zukunftspronosen (so genannte "Legalprognosen") der Psychiatrie ausschlaggebend für die Wegsperrung von Menschen, und zwar nicht nur für hochgefährliche Straftäter, sondern auch für Kleindelinquenten. Bei der Massnahme nach Art. 59 geht es nicht - wie bei der lebenslänglichen Verwahrung nach Art. 64 - um gefährliche Mörder und Sexualstraftäter, sondern um Menschen, die vor allem irgendwie stören: Eigenbrötler, Aussenseiter, notorische Querulanten, Langzeitarbeitslose, Ausländer, Randständige und Verwahrloste.

Für die Massnahme 59 genügt es, wenn man wegen irgendetwas verurteilt worden ist und zudem eine psychische Störung diagnostiziert wird, wenn man also sagen kann: Er hat nicht aus Wut zugeschlagen, sondern weil er schizophren ist. Nachdem der grösste Teil der Strafe abgesessen wurde, wird der Rest dann "zugunsten einer Massnahme aufgeschoben". Diese Massnahme (auch "kleine Verwahrung" genannt) ist im Gegensatz zur Strafe allerdings open end. Sie kann nach 5 Jahren um jeweils weitere 5 Jahre verlängert werden. Im Windschatten der Empörung über Verbrechen gefährlicher Straftäter auf Hafturlaub ist damit eine rigorose Wegsperrpraxis entstanden, die einen ganz anderen Personenkreis betrifft: Menschen, die nicht ins soziale Normalitätsraster passen. Gleichzeitig entstand eine neue juristische Personenkategorie: der potenzielle Straftäter. Er füllt heute die Gefängnisse und die Hochsicherheitstrakte psychiatrischer Anstalten.

Strafrechtsexperten und Kriminologen warnen inzwischen vor der "Vollkaskomentalität" in der Strafjustiz - so z.B. die Basler Strafrechtsprofessorin Nadja Capus. Die begriffliche Anlehnung an das Versicherungswesen mit seinen mathematischen Methoden ist durchaus angebracht, wie Capus am Dreiländerkongress zum Thema "Strafverteidigung und Sicherheitswahn" in Zürich ausführte. Wie bei der Berechnung der Erdbeben-Versicherungspolice für ein Haus, wo nicht nur das Haus angeschaut wird, sondern auch der Ort, an dem es steht, sein Zustand, sein Fundament etc., so wird auch in der Justiz nicht mehr ein konkreter Fall behandelt und bestraft, sondern man macht von den "Neukunden" bei Eintritt in den Strafvollzug ein "Screening" und teilt sie in eine bestimmte Kategorie ein, zum Beispiel: jung, nicht bei beiden biologischen Eltern aufgewachsen, Migrationshintergrund, fehlende Tateinsicht, psychische Störung. Darauf basiert dann die Risikoanalyse und je nach "Rückfallgefahr" wird eine Massnahme angeordnet, d.h. eine Verwahrung auf Zeit.

Wenn ein Strafrechtler und Rechtsphilosph wie der in Freiburg lehrende Marcel Alexander Niggli sich öffentlich (am oben erwähnten Kongress) die Zeiten der Repression zurückwünscht, weil diese freier und fairer gewesen seien als die heutige Ausrichtung im Strafrecht, dann sollte das aufhorchen lassen, zumindest wenn man sich einer liberalen Gesellschaftsordnung verpflichtet fühlt. Unsere Rechtspraxis folgt dem Prinzip "nulla poena sine culpa" (keine Strafe ohne Schuld), wobei für Menschen in einer "Massnahme open end" schwer nachvollziehbar ist, dass diese keine Strafe sein soll, sondern nur ihrer Therapie und dem Schutz der Gesellschaft dient. Wer sich in der europäischen Geschichte auskennt, weiss, dass letztmals im Nationalsozialismus das Schuldstrafrecht radikal durch das Präventionsstrafrecht ersetzt worden ist. So verlockend es auch klingen mag, Straftaten im Voraus mit "objektiven" und "rationalen" Verfahren zu ermitteln und dann qua Präventionseinsperrung therapeutischer Massnahme zu verhindern, so fatal ist die gesellschaftliche Konsequenz einer solchen Justiz.

 

Ein Verdacht 

Erich Schlatters Biografie beleuchtet exemplarisch die zunehmend enge Verbindung von Psychiatrie und Justiz im Strafvollzug und den Trend zur Pathologisierung und Kriminalisierung von randständigen, nicht an die sozialen Normen angepassten Menschen. Schlatter ist in Schaffhausen stadtbekannt: Ein hagerer Einzelgänger, Rohköstler, Sammler und sprachgewandter Querulant, der sich weigerte, Parkbussen zu bezahlen, und Beamte beschimpfte, wenn sie ihn provozierten. Im Allgemeinen war er ein freundlicher Mensch. Wohnhaft in einer Abbruchliegenschaft. Sein Motto lautete: Zurück zur Natur. Er ernährte sich von rohem Gemüse, Früchten und Fisch, auf einer eingezäunten Wiese hielt er eine Zeit lang Enten, Pfauen und Hühner. Den Behörden war er ein Dorn im Auge, aber viele mochten ihn für seine offene und ungekünstelte Art, für sein Lächeln durch die Zahnlücke, seinen gelassenen Witz und seine Intelligenz.

1993 wurde Schlatter erstmals verhaftet: Man verdächtigte ihn des Mordes an Dario Cicolecchia, da sein Auto in der Nähe des Tatorts gesichtet worden war. Trotz intensiver Suche nach Beweismitteln und Kreuzverhören in U-Haft konnte man ihm allerdings nichts nachweisen und liess ihn schliesslich widerwillig "mangels Beweisen" laufen. Später wurde der wahre Mörder Roland K. gefasst und zweifelsfrei identifiziert. Schlatter war entlastet. Eine Entschuldigung für die ungerechtfertigte U-Haft erhielt er nie, da sich die Behörden in Zürich und Schaffhausen nicht einigen konnten, wer dafür zuständig sei.

In der Folge wurde Schlatter zunehmend radikal in seinen Ansichten dem Staat gegenüber. Er wehrte sich wortreich, wenn er sich zu Unrecht bedrängt fühlte, schimpfte auf Ärzte, Psychiater, Köche und Polizisten. Im März 1997 wurde er zum fünften Mal in die Psychiatrische Klinik Breitenau eingewiesen. Die Untersuchungsbehörden verlangten eine Neubeurteilung, Ziel war der fürsorgerische Freiheitsentzug. Schlatters Verteidiger warf den Gutachtern der Breitenau allerdings Befangenheitheit vor, worauf die Staatsanwaltschaft ein Gutachten von der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen beantragte. Darin wurde Schlatter zwar eine überdurchschnittliche Intelligenz attestiert, er habe aber eine voll entwickelte paranoide Persönlichkeitsstörung und in akuten Konfliktsituationen eine "schwindende Besinnungsfähigkeit". Ein zusätzliches externes Gutachten kam allerdings zum Schluss, dass Schlatter ungefährlich sei und absolut kein Aggressionspotenzial habe. Einzige eventuelle Ausnahme: wenn er sich akut bedroht und eingeengt fühle, keine Fluchtmöglichkeit mehr sehe. Schlatter wurde zunächst in die Hochsicherheitsabteilung in Rheinau verlegt und am 7. Juni 1997 wieder entlassen.

Am 15. April 2002 wurde Schlatters Fahrzeug von der Schaffhauser Polizei eingezogen, weil er die Motorfahrzeugsteuer nicht bezahlt hatte. Schlatter wurde wütend, betrank sich und es kam zu einem Streit in seinem Stammlokal. Die Serviceangestellte warf seine auf einen Zettel notierte Bestellung in den Abfall und verweigerte ihm die Bedienung, worauf Schlatter die Kasse packte, damit in den Hof rannte und das Geld in den Gulli stopfte. Es kam zu Handgreiflichkeiten, bis zu Hilfe eilende Gäste die beiden trennten. Schlatter wurde festgenommen, in eine Zelle gesteckt, nach einigen Tagen aber wieder entlassen. Er entschuldigte sich bei der Serviceangestellten, die Steuern für das Auto wurden bezahlt, Anklage wurde nicht erhoben.

 

Das Verfahren

Ein Jahr später bot sich endlich Gelegenheit, Schlatter wegen eines Delikts offiziell zu belangen: Vor dem Restaurant Schalcheneck war es am frühen Morgen des 25. Aprils 2003 zu einem Streit gekommen. Die Wirtin hatte Schlatter provokativ die Zeitung weggenommen, es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung. Anwesend war noch ein anderer Gast, ein mit der Wirtin befreundeter Eisenleger. Schlatter fühlte sich bedroht und flüchtete aus dem Lokal, die Wirtin und der Eisenleger ihm nach. Sie hinderten ihn am wegfahren, worauf Schlatter zuerst mit einem Plastikstuhl drohte und dann aus dem Kofferraum seines Autos zwei Gepäckträgerteile holte (an der Gerichtsverhandlung war von "Eisenstangen" die Rede, als ob man den Beruf des kräftig gebauten Klägers mit der Beschaffenheit eines Hohlrohres aus Leichtmetall verwechselt hätte).

Über alles Weitere wissen nur die drei Beteiligten Bescheid. Der Eisenleger erklärte vor Gericht, Schlatter habe "mit aller Kraft" Richtung seines Kopfes geschlagen - aktenkundig ist eine "leichte Schürfwunde". Die Wirtin liess sich einen blauen Fleck diagnostizieren. Schlatter bestreitet bis heute, sie getroffen zu haben. Vier Tage später, am 29. April 2003, wurde ein Strafantrittsbefehl erlassen - für kumulierte Strafzettel, Beamtenbeschimpfung und die Geschichte mit dem Geld im Gulli vor einem Jahr. Schlatter kam zuerst nach Pfäffikon, im Mai folgte die Verlegung in die JVA Pöschwies, darauf kam er nach Rheinau, wo er medikamentös behandelt wurde, um nach einem "sensationellen Erfolg" der Therapie im August 2003 wieder in die "Integrationsabteilung" der Pöschwies verlegt zu werden. Parallel lief das Verfahren über den Vorfall vor dem Schalcheneck. 

Die Anklage lautete zuerst auf mehrfach versuchte Tötung. Am 9. Dezember 2005 wurde Schlatter vom Obergericht Schaffhausen schliesslich wegen mehrfach versuchter schwerer Körperverletzung, einfacher Körperverletzung, Sachentziehung und Sachbeschädigung zu einer Gefängnisstrafe von 15 Monaten verurteilt. Bereits im März 2004 hatte er fatalerweise eingewilligt, dass die restliche Zeit der Vorstrafe zugunsten einer Massnahme nach Art. 59 aufgeschoben wird. Am 6. Juli 2004, als von der Strafe noch 3 Monate und 12 Tage abzusitzen gewesen wären, war Schlatter in die Sicherheitsverwahrung der psychiatrischen Klinik in Rheinau überführt worden. Mit dem Urteil vom Dezember 2005 schwand die Hoffnung auf Entlassung aus der Massnahme radikal - Schlatter galt nun als gefährlich. Zusammen mit den gut drei Monaten der Vorstrafe wurde auch die neue Strafe von 15 Monaten zugunsten des Massnahmenvollzugs auf unbestimmte Zeit aufgeschoben.

 

Flucht und Repatriierung

Ohne Aussicht, jemals wieder aus der Massnahme entlassen zu werden, flüchtete Schlatter am 23. Juli 2006 auf einem begleiteten Ausgang und lebte in den folgenden Jahren an verschiedenen Orten in Deutschland, Frankreich und Spanien - zuletzt in der Nähe von Valencia. Das Schweizer Fernsehen hat ihn während dieser Zeit zweimal gefilmt (siehe Rubrik "Medien"). 2009 geriet Schlatter zum zweiten Mal in seinem Leben unter Mordverdacht. In seinem unmittelbaren Umfeld war ein junger Drogensüchtiger schlafend auf einer Parkbank getötet worden. Schlatter wurde von der spanischen Polizei festgenommen, kam in U-Haft und wurde von verschiedenen Schweizer Medien trotz Unschuldsvermutung rigoros verleumdet und abgeurteilt. Es hiess, sein "Helferkreis" und wohlwollende Journalisten redeten von einem "schrägen Vogel", aber in Wahrheit sei er eine Zeitbombe. Die Weltwoche suggerierte, dass der getötete drogenabhängige U. B. Schlatters jahrelange "Schauspielerei" aufgedeckt habe und dafür sterben musste.

Auch nach monatelanger Suche konnten allerdings keinerlei Indizien oder DNA-Spuren gefunden werden (und das bei einem Messie, der nicht einmal über fliessendes Wasser verfügte - Schlatter lebte damals in einem Orangenhain). Es lag weder ein Motiv vor, noch würde die Tat in irgendeiner Weise zu Schlatters psychischer Verfassung passen: Er mag eine paranoide Störung haben und sich wehren, wenn er sich angegriffen fühlt; aggressiv gegenüber einem wehrlosen Opfer war und ist er nie. Dank einer Videoaufnahme in einem Bankomaten-Vorraum, in dem er sich zur Tatzeit aufgehalten hatte, wurde Schlatter schliesslich entlastet. Er war gar nicht vor Ort.

Nach der U-Haft in Spanien wurde Schlatter an die Schweiz ausgeliefert und unter verschärften Bedingungen wieder in den Massnahmenvollzug zurückgeführt. Er kam in den Hochsicherheitstrakt in Rheinau. Bis heute sind zahlreiche Gutachten über ihn verfasst worden. Hatte man ihm in den Gutachten von 2004 und 2011 eine schizotype Störung sowie eine paranoide Persönlichkietsstörung attestiert, so diagnostizierte man in Rheinau nun eine hebephrene Schizophrenie und testete verschiedenste Neuroleptika - ohne wesentlichen Erfolg. Anfang 2013 wurde die Diagnose revidiert, da sie der einschlägigen Symptome ermangelt, Schlatter hatte wieder eine "schwere paranoide Persönlichkeitsstörung". Am Dienstag 12. März 2013 wurde er vom Hochsicherheitstrakt Rheinau ins Gefängnis Pöschwies verlegt, das dem Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des Amts für Justiz Zürich (PPD) untersteht. Dies entschied das Amt für Justiz Schaffhausen entgegen den Vorschlägen des psychiatrischen Gutachtens von Dr. Lothar Reger vom Januar 2013.

Im diesen Gutachten wurde die Therapiefähigkeit von Erich Schlatter verneint (was eine Voraussetzung für die Fortsetzung der strafrechtlichen Massnahme wäre) und eine Verlegung in eine geschlossene Institution mit milieutherapeutischem Rahmen empfohlen, wie sie etwa die Sonnhalde in Grüningen gewährleisten würde. Im Austrittsbericht der psychiatrischen Klinik Rheinau wird Schlatter implizit die Tat von Valencia unterstellt, trotz gegenteiligem Urteil.

 

Verwahren, versorgen, bestrafen oder freilassen?

Da sich in naher Zukunft weder Schlatters Dossier noch seine psychische Verfassung ändern wird, wird er kaum je eine günstigere "Legalprognose" erhalten. Die Schwierigkeit, überhaupt eine schlüssige Diagnose zu stellen und die nach jahrelangem Versuch gescheiterte "Therapie" dieser wie auch immer gelagerten "Krankheit" führten dazu, dass heute überhaupt niemand mehr zuständig sein möchte: Man weiss schlicht nicht wohin mit dem Menschen. Zu diesem Schluss kam auch der PPD Zürich in einem Schreiben an das Amt für Justizvollzug Schaffhausen vom 24. Juni 2013, in dem es heisst: "In all den Jahren war die genaue diagnostische Zuordnung der psychischen Erkrankung von Herrn Schlatter gewissen Unsicherheiten unterworfen." Wenn auch die präzise diagnostische Einordnung der Erkrankung von Herrn Schlatter schwierig sei, so sei doch klar, dass er grundsätzlich seit der Jugend an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Sprektrum leide (Kapitel F2 in ICD-10). Diese Krankheit habe bei ihm einen chronischen Verlauf genommen.

Wie hartnäckig diese Chronifizierung sei, wird im Schreiben unmissverständlich deutlich gemacht: "Im Rahmen der mehrjährigen stationären psychiatrischen Behandlung im Zentrum für stationäre forensische Therapie in Rheinau erfolgte während mehreren Jahren ein intensiver Behandlungsversuch. Während dem ganzen Verlauf hat Herr Schlatter in wechselnder Ausprägung Negativsymptome (Desinteresse, Rückzug, Selbstpflegedefizit) und einen Ernähungs- sowie Verfolgungswahn gezeigt." Medikamente hätten zeitweise einen "modulierenden Effekt" gehabt. "Ein durchschlagender Erfolg auf die gesamte Symptomatik war jedoch nicht zu verzeichnen." Der PPD Zürich kommt zum Schluss, "dass die schizpohrene Störung bei Herrn Schlatter sehr chronifiziert und medikamentös nur eingeschränt beeinflussbar ist" und "dass weder Krankheitseinsicht noch Behandlungsbereitschaft bzw. Behandlungseinsicht erreicht werden konnten und daher von weitgehender Behandlungsresistenz auszugehen ist". Eine Therapiefähigkeit mit dem Ziel der Besserung der Legalprognose bestehe nicht. 

Wohin mit so einem Menschen, dessen "Krankheit" man weder diagnostizieren noch therapieren kann, den man nicht ändern, nicht verwandeln, nicht unsichtbar machen kann? Die Justizvollzugsanstalt Pöschwies sei für für die "Behandlung von Menschen mit schweren und chronisch verlaufenden Erkrankungen aus dem schizophrenen Spektrum (...) nicht eingerichtet", heisst es im Schreiben an die Schaffhauser Behörden. "Schon der adäquate Umgang mit seiner Erkrankung im Rahmen des blossen Strafvollzugs ist kaum möglich, die in den Gutachten von 2011 und 2013 empfohlene Milieutherapie kann hier jedoch gar nicht durchgeführt werden." Und in selten deutlichen Worten gibt die zuständige Psychiaterin zu bedenken, dass es Menschen gebe, die einfach nicht ins System passen. Der PPD habe Zweifel, "dass dieser Auftrag (der stationären Massnahme gemäss Art. 43.1.1 aStGB) überhaupt irgendwo durchgeführt werden kann. Nach dem langjährigen frustranen Behandlungsversuch im Zentrum für stationäre forensische Therapie in Rheinau gehen wir davon aus, dass dies nicht möglich ist und der Zustand von Herrn Schlatter in der Zukunft so sein wird wie in der Vergangenheit."

 

Die Verhandlung vom 3. Juli 2013

"Alles ist eine Frage der Erkenntnis und des guten Willens unter Vermeidung von Naivität" - das ein Zitat von Erich Schlatter. Das Kantonsgericht Schaffhausen hat am 3. Juli 2013 besonnen nach diesem Motto geurteilt. Die Verhandlung vor zahlreich erschienenem Publikum war von Extremen geprägt. Der Staatsanwalt plädierte dafür, Erich Schlatter nach Art. 64 lebenslänglich zu verwahren. Voraussetzung dafür sei eine qualifizierte Anlasstat (wobei die bloss "versuchte" schwere Körperverletzung ausreiche), eine hohe Rückfallgefahr aufgrund der nicht behandelbaren psychischen Störung, sowie die Verhältnismässigkeit, die angesichts des Sicherheitsbedürfnisses der Bevölkerung gegeben sei.

Der Verteidiger machte in seinem Plädoyer deutlich, dass der Gutachter Lothar Reger Erich Schlatter eine hohe Rückfallgefahr auf etwas attestiere, das noch nie passiert sei. Statt auf konkrete Delikte werde auf Schlatters "Verfolgungswahn" (vor dem Staat) verwiesen, was dann die Prognose belaste. Man müsse aber festhalten, dass Erich Schlatter in den vergangenen zehn Jahren unter schwierigsten Umständen sowohl im Hochsicherheitstrakt der Psychiatrie als auch auf seiner Flucht nie auch nur handgreiflich geworden sei. In keinem der zahlreichen Gutachten sind Tätlichkeiten protokolliert. Schlatter verhielt sich durchwegs ruhig und angepasst. Nachdem bereits 2011 vom externen Gutachter eine Milieutherapie empfohlen worden sei, habe man diese bis heute systematisch verhindert, um dann im Nachhinein zu sagen, die Therapie sei gescheitert. Es gehe den zuständigen Behörden also offensichtlich nicht darum, Erich Schlatter zu therapieren oder ihm gar zu helfen, sondern einzig darum, ihn zu verwahren. Und um das zu bewerkstelligen, werden die beiden Wahnkonstrukte (Ernährungswahn, Verfolgungswahn) als "Beweis" für die schlechte Legalprognose herangezogen. Das widerspreche Treu und Glauben.

Nach zweistündiger Beratung hat das Gericht ein deutliches Urteil gefällt. Es trat weder auf den Antrag auf Verwahrung ein, noch auf den Antrag, die Massnahme im Sinne einer Milieutherapie in einer geeigneten Institution zu verlängern. Die Strafe sei mehrfach abgesessen. Zuständig sei nun die Erwachsenenschutzbehörde, nicht mehr eine psychiatrische Institution. Das Urteil wurde damit begründet, dass Erich Schlatter nicht behandelbar und somit gar nicht massnahmefähig sei. Die Massnahme in Rheinau sei gescheitert, die JVA Pöschwies sei erklärtermassen nicht eingerichtet dafür, ihn zu betreuen (geschweige denn zu therapieren) und für eine Verlegung in eine andere geschlossene Betreuungsinstitution sei das Gericht gar nicht zuständig, das sei Sache der Vollzugsbehörde. Mit Bezug auf die Anlasstat, die für eine lebenslängliche Verwahrung entscheidend ist, betonte der vorsitzenden Richter, dass der Vorsatz beim damaligen Urteil nicht im Sinne einer Planung der Tat geltend gemacht worden sei, sondern im Sinne einer impulsiven Überreaktion. Das Gericht schätzt die Gefahr für eine schwere Verletzungstat oder gar Tötung als unwahrscheinlich ein: Schlatter hat in seinem Leben noch nie jemanden ernsthaft verletzt. Die Voraussetzungen für eine lebenslängliche Verwahrung seien nicht gegeben.